»LIMONOW«


von
Emmanuel Carrère



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Die Wahrheit über einen Faschisten

Johanna Adorján

Emmanuel Carrère erzählt das irre Leben des russischen Politaktivisten Eduard Limonow.

Irgendjemand hatte mir das Buch «Amok» empfohlen, von einem gewissen Emmanuel Carrère. Das war vor einigen Jahren, und es war schon damals nur noch antiquarisch zu bekommen, obwohl es erst 2001 erschienen war. Es erzählte die wahre Geschichte eines dieser Menschen, die sich ihre gesamte Existenz zurechtlügen, in diesem Fall eine Existenz als Chefarzt, was alle Welt glaubte, obwohl der vermeintliche Arzt niemals sein Medizinstudium abgeschlossen hatte. Und als alles herauszukommen drohte, brachte der Mann seine Frau und seine Kinder um, zündete sein Haus an, wollte all die Lügen in Flammen aufgehen lassen — doch er überlebte, als Einziger.

Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère, der bis dahin neben einer Biographie über Werner Herzog nur Romane geschrieben hatte, hörte von diesem Fall, und das Ausloten der Grenzen zwischen Wahrheit und Fiktion reizte ihn. Er begann eine mehrjährige Recherche, die er heute als schwierige Zeit in seinem Leben schildert — zum Schluss kam das Buch «Amok» dabei heraus, ein grandios en détail beschriebener Weg ins Verderben. Im Original hieß das Buch «L’Adversaire» und legte den Grundstein dafür, wofür Carrère heute — aus unerfindlichen Gründen bislang nur in seiner Heimat — sehr bekannt ist: Nonfiction, die sich so elegant, schillernd und abenteuerlich liest wie ausgedacht.

Jetzt gibt es für deutsche Leser endlich wieder eine Gelegenheit, diesen Autor kennenzulernen: Sein neuestes Buch, vor genau einem Jahr in Frankreich erschienen, wo es sehr erfolgreich war, erscheint nun im Verlag Matthes & Seitz auf Deutsch: «Limonow» (hervorragend übersetzt von Claudia Hamm).

Es handelt, eben, von Limonow, Eduard Limonow, der hierzulande vielleicht am ehesten noch durch sein 2004 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenes Buch «Fuck off, Amerika» bekannt ist, der Titel ist ja recht einprägsam. 1943 in der Ukraine geboren, war er Kleinganove, gefeierter Dichter, Star des sowjetischen Undergrounds, wurde, des Landes verwiesen, in Paris eine Art Rockstar der intellektuellen Boheme. In New York lebte er als Penner und Kammerdiener eines Milliardärs. Im Jugoslawienkrieg kämpfte er auf der Seite der Serben. In Russland gründete er eine neofaschistische Partei, wurde verhaftet, saß Jahre im Gefängnis. Sein aktueller Kampf ist der für Meinungsfreiheit — wofür er sich als wichtige Figur der russischen Opposition in Moskau relativ regelmäßig verhaften lässt. Kurzum, sein Leben klingt ohnehin, als habe es sich ein Schriftsteller oder Drehbuchautor ausgedacht, und zwar einer mit Hang zu Überhöhung und dramatischem Exzess.

Chaos in Russland

Ich treffe Emmanuel Carrère, 54, der wie alle Franzosen den ganzen August über verreist ist, an seinem Urlaubsort, auf der griechischen Insel Patmos. In echt sieht er nicht traurig aus wie auf Fotos, sondern scheint im Gegenteil zu vibrieren vor Energie. Er ist braungebrannt, ein lebhafter Erzähler, das Meer im Hintergrund steht ihm gut.

«Eigentlich wollte ich gar kein Buch über Limonow schreiben», sagt er. «Es sollte ursprünglich nur ein Artikel für eine neu gegründete französische Zeitschrift werden. Aber dann habe ich gemerkt, dass man an seinem Leben entlang eine viel größere Geschichte erzählen kann: Die vom postkommunistischen Russland, vom Chaos nach dem Zusammenbruch dieses Systems. Denn Limonow war überall. Wie eine Art Forrest Gump, irgendwie läuft er immer durchs Bild. Er ist ein Charakter wie aus einem Schelmenroman».

Gleichzeitig ist Limonow natürlich ein Mann voller Widersprüche, politisch mitunter höchst fragwürdig, auch wenn etwa Anna Politkowskaja ihn sehr respektierte — ein lupenreiner Sympathieträger ist er jedenfalls nicht. «Ja ja, das stimmt schon», sagt Carrère, «also, ich mag ihn ja auch nicht. Das würde ich ihm auch so sagen: sympathisch ist er mir nicht. Auch wenn er Eigenschaften hat, die ich bewundere: Mut, Ehrlichkeit und die Bereitschaft, für seine Taten einzustehen und zu bezahlen, notfalls auch mit Haft. Aber er ist ein richtiger Faschist — nicht im politischen Sinn, da ist er ja neuerdings ein großer Demokrat —, aber vieles an seinem Charakter ist faschistisch. Ich meine damit diese Haltung, dass der Stärkere überlebt. Dass Moral einen nicht weiterbringt. Dass die meisten Menschen kleine, langweilige Leben leben und dass der Held ein intensives, gefährliches, außergewöhnliches Leben leben muss. Es wäre töricht, den Charme des Faschismus zu unterschätzen, der Satz stammt von Pasolini, und Limonow verkörpert diesen Charme. Wenn man diesen Charme nicht sieht, nicht sehen will, kann man nicht nur das 20. Jahrhundert nicht verstehen, sondern versteht auch viel von unserem Leben nicht. Ich wollte das Porträt eines Faschisten schreiben, ohne auszusparen, dass wir alle Anteile davon in uns haben, ob wir das nun wahrhaben wollen oder nicht».

Schüsse auf Waldheim

In den achtziger Jahren verkehrten Limonow und Carrère in denselben Pariser Kreisen und liefen sich gelegentlich über den Weg. Carrère sagt, dass er den etwas älteren Literaten damals beneidet hat. «Ich war in meinen Zwanzigern. Ziemlich schüchtern, hatte nichts erlebt, würde mit etwas Glück vielleicht mal was schreiben, was Bestand haben würde, hoffte ich, aber verglichen mit Limonow war mein Radius, meine Welt, mein Erfahrungsschatz ernüchternd klein».

Als Recherche für den Zeitschriftenartikel, aus dem schließlich das Buch über Limonow werden sollte, trafen sie sich in Moskau wieder, wo Carrère ihn zwei Wochen lang begleitete. Ansonsten verließ er sich auf Quellenmaterial, dem zu vertrauen er einfach beschloss: Limonows Bücher, die alle von ihm selbst handeln und bei aller Großmäuligkeit bisweilen rührend detailverliebt sind.

Und weil der Erzähler Carrère ein großer Dramaturg ist, gelingt es ihm, ein solch abenteuerlich rasantes Leben voll Höhenflügen und Abstürzen, Besäufnissen, Schlägereien, Selbstmordversuchen, Sex, viel Sex — mit eigensinnigen, starken Frauen und zufällig irgendwo aufgegabelten Männern, ein Leben, das vor düster funkelnden Anekdoten birst wie jener, dass Limonow einmal um Haaresbreite Kurt Waldheim erschossen hätte — eine Party in New York, er hatte ihn schon im Visier seines Gewehrs —, gelingt es Carrère also, diesen ganzen spannenden Irrsinn auf knapp 500 Seiten zu packen (die sich weglesen, als wären es 300) — und wie nebenbei, als gerate er eben hier und da ein wenig ins Plaudern, auch noch die jüngere und jüngste Geschichte Russlands zu erklären, so dass man nach der Lektüre das Gefühl hat, endlich etwas mehr zu verstehen über dieses Land, das so groß ist, dass es zwischen Wladiwostok und Leningrad elf Zeitzonen gibt. Sogar das vorangestellte Putin-Zitat macht zuletzt Sinn: «Wer den Kommunismus wiedererrichten will, hat keinen Verstand. Wer ihm nicht nachtrauert, hat kein Herz».

Es habe allerdings während der Recherche einen Moment gegeben, erzählt Carrère, an dem er von seinem Protagonisten so angewidert war, dass er die Arbeit am Buch für ein ganzes Jahr unterbrach. Und zwar gibt es ein Video, das man sich auf Youtube ansehen kann, auf welchem zu sehen ist, wie Limonow von einem Hügel aus mit einem Maschinengewehr Sarajevo beschießt. «Das Problem war nicht, dass er sich so aufführte», sagt Carrère — «das Problem war, dass er dabei so lächerlich wirkte, so läppisch. Da hatte ich plötzlich die Befürchtung, dass er am Ende doch gar nicht so eine interessante Figur war». Irgendwann überwand Carrère seinen Zweifel, schrieb weiter und machte Limonow zum wenn auch nicht unbedingt liebenswerten, so doch nachvollziehbaren larger than life-Helden seines Buchs.

Seit «Amok» taucht Emmanuel Carrère in jedem seiner Bücher auch selbst auf, was zu einer Art Markenzeichen geworden ist. Und wofür er natürlich auch kritisiert wird. «Wenn ein Autor Ich sagt, wird das gerne für eitel und narzisstisch gehalten», sagt er, «dabei ist es das Gegenteil. Es ist ehrlich. Es meint: Das ist nur meine Sicht hier, das habe ich gehört, gesehen und gedacht. Ich kann doch nicht so tun, als wüsste ich eine objektive Wahrheit, es steht mein Name darunter, natürlich schreibe ich also Ich». Oft dient das Ich des Autors dazu, den Leser an der Hand zu nehmen und wie ein Freund durch oft komplizierte Sachverhalte zu führen, hier und da zusammenfassend abzukürzen, wo etwas langweilig zu werden droht, und auch die eigenen Position offenzulegen: als es etwa um Limonows Dichtkunst geht, gibt der Autor zu, dass er von Poesie keinen blassen Schimmer habe.

Der Mythos schweigt

Manchmal ist es auch einfach sehr amüsant: wenn Carrère zum Beispiel erzählt, wie er den von ihm so bewunderten Werner Herzog einmal interviewt habe, lange her, und vor diesem auf dem Tisch die von ihm, Carrère, verfasste Herzog-Biographie liegen sah. Als er ihn fragte, ob er das Buch, sein Buch denn gelesen habe, was er nicht annahm, da es ja auf Französisch war, sagte Herzog: «I prefer we don’t talk about that. I know it’s bullshit. Let’s work».

Natürlich waren andere Bücher noch persönlicher: So ging es in «D’autres vies que la mienne» (2010) um Menschen aus Carrères Privatleben, unter anderem erzählte es vom viel zu frühen Krebstod seiner Schwägerin. Und in «Un roman russe» (2009) ging es um die russischen Wurzeln des Autors, dessen Mutter Hélène Carrère d’Encausse ist, eine bekannte Persönlichkeit des akademischen Lebens in Frankreich, die Spezialistin in Sachen Sowjetunion. Er rührt in diesem Buch ein Familientabu an: die Kollaboration seines 1921 nach Frankreich emigrierten, aus Georgien stammenden Großvaters mit den Nazis. Außerdem handelt es von Carrères Arbeit an einem Dokumentarfilm über einen nach dem Zweiten Weltkrieg in Russland vergessenen ungarischen Kriegsgefangenen und von einer privaten tragischen Liebesgeschichte, und irgendwie bringt Carrère das Kunststück fertig, diese drei Handlungsstränge, deren einzige Verbindung er selbst ist, zu einem in sich schlüssigen, nicht langweilenden Buch zusammenzuflechten.

Der Verlag Matthes & Seitz hat neben «Limonow» auch die Rechte an diesen beiden Romanen gekauft, es wird also in Zukunft noch mehr von Carrère auf Deutsch zu lesen geben.

Und Limonow? Der wurde vor kurzem mal wieder in Moskau verhaftet und zu einer Geldstrafe von umgerechnet 300 Euro verurteilt, als er gegen das neuerdings verschärfte Demonstrationsgesetz verstieß. Mit der von ihm gegründeten Initiative Strategie 31 setzt er sich unerschrocken für das Recht auf freie Meinungsäußerung ein; er und seine Mitstreiter demonstrieren an jedem 31. eines Monats. Zu Carrères Buch will er sich nicht äußern. Nur so viel: Carrère habe ihn zu einem Mythos gemacht, er werde sich hüten, diesen Mythos zu zerstören.


«Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», 26. August 2012

Eduard Limonow

Original:

Johanna Adorján

Die Wahrheit über einen Faschisten

// «F.A.S.» (de),
26.08.2012